Eine Reise nach Kabul

KUFA-Mitarbeiter Eike Hinrichs schreibt über seine Reise mit KUFA-Gründer Rahman Nadjafi 2004 nach Kabul. Ein Bericht über den Alltag in einem Land mit schwerer Vergangenheit und ungewisser Zukunft.

von Eike J. Hinrichs

Durch familiäre Bindungen über meine Halbschwester und ihren afghanischen Vater war ich schon frühzeitig mit der afghanischen Kultur in Kontakt gekommen. Nach meinem Abitur fing ich an mich bei KUFA zu engagieren. Seit meiner Geburt im Jahre 1980 befand sich dieses ferne Land am Hindukusch im Kriegszustand, erst durch die Okkupation der Russen und schließlich durch die langjährige Unterdrückung der Bevölkerung durch die Taliban.

KUFA ist seit nunmehr 25 Jahren aktiv um der Not leidenden Bevölkerung Hilfe zukommen zu lassen. Zuerst in den Flüchtlingslagern in Pakistan, und seitdem sich die Situation im Land durch die Ereignisse um den 11 September 2001 so veränderten, dass es nun möglich ist direkt vor Ort zu agieren, hat KUFA sofort innerhalb Afghanistans mehrere Projekte zur Unterstützung ins Leben gerufen. Nämlich die der Schulen und der am meisten Betroffenen, der Witwen und Waisen im Land. Der Verein betreut zurzeit hauptsächlich ein Frauen- und Waisenhaus in der Nähe von Kabul, indem die Menschen wieder an ein selbstbestimmtes Leben herangeführt werden.

Ich bin in Begleitung von Rahman Nadjafi, dem Vorsitzenden von KUFA e.V. auf dem Weg nach Afghanistan, um die Entwicklung des Projekts direkt vor Ort anzuschauen, sie zu dokumentieren und nach Möglichkeit neue Unterstützer für die humanitäre Arbeit im Land zu gewinnen.

Nach insgesamt 8 1/2 Stunden Flug mit Zwischenstopp in Istanbul landen wir in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. Die Atmosphäre auf dem Flughafen ist geprägt durch die vielen Militärmaschinen und Hubschrauber der internationalen Gemeinschaft ISAF. Vom Rollfeld geht es zu Fuß in das kleine Empfangsgebäude. Hier herrscht ein großes Durcheinander. Jeder möchte als erster seine Formalitäten erledigen. Es wird geschubst und gedrängelt. Ein paar Polizisten bemühen sich um Ordnung.

Als ich Rahman auf ein paar Leute aufmerksam mache, die an der Seite vorbeigelotst werden erklärt er mir leise, das Afghanistan ein Land der Beziehungen sei. So haben auch wir unsere Verbindungen genutzt um die Kontrollen zu passieren und sitzen kurze Zeit später vor dem Flughafen in einer staubigen Hitze, umringt von Neugierigen und warten auf unseren Fahrer der uns zum Hotel bringen soll. Auf der Fahrt durch die Stadt fallen uns sofort die gut gefüllten Geschäfte auf, die mit internationalen Produkten Handel treiben.

Ein alter Mann ohne Beine sitzt mitten auf der Strasse. Die vorbeifahrenden Autos wirbeln den Staub in dichten Wolken um ihn herum. Die Luft ist durchzogen von dem Geruch des Diesels, mit dem die Autos und die vielen Generatoren der Stadt betrieben werden. Ein Mundschutz mit Kohlefilter sorgt im ersten Moment für Erleichterung, bis wir unser Hotel am Stadtrand von Kabul in der Strasse Bagh-e-Bala erreichen.

Nachdem wir uns zwei kurze Stunden Schlaf genehmigt haben bekommen wir Besuch von Mohammad Khan, dem Vater von Marzak. Marzak hat als zwölfjähriger beim Spielen durch eine Miene ein Bein verloren und ist nach Deutschland gekommen um medizinisch behandelt zu werden. Mohammad Khan liefen Tränen übers Gesicht als Rahman ihm Fotos seines Sohnes schenkte, die ihn im Heidepark Soltau und im Auto-Skooter zeigten. Durch die Sportprothese, gespendet von Peter Maffay, sieht man von dem Unfall auf den Bildern kaum noch etwas.

Mohammad Khan und seine Familie sind einfache Bauern. Seine großen, starken Hände sprechen Bände von der harten Feldarbeit, die hier hauptsächlich nur mit Muskelkraft bewältigt wird. Er möchte sich so gerne ein paar Kühe kaufen, und Rahman übergibt ihm im Namen von KUFA 600 €, damit er sich diesen Wunsch erfüllen kann. Das Leuchten in den Augen des Mannes wird für mich in ewiger Erinnerung bleiben und ich hoffe, dass wir irgendwann Zeit finden werden, die Einladung in sein Dorf anzunehmen. 

Kurze Zeit nachdem Mohammad Khan gegangen war, treffen Rafiq Hassib und Nassrad bei uns im Hotel ein. Rafiq ist ehrenamtlicher Leiter der KUFA- Projekte in Kabul und Nassrad verfügt als ehemaliger Fahrer von dem bereits legendären General Massoud, über Kontakte zu vielen wichtigen Persönlichkeiten des Landes, die für die Aufbauarbeit von KUFA bedeutsam sind.

Rafiq Hassib berichtet von einer Frau, die seit 6 Monaten im Projekt lebt. Die Frau ist noch verheiratet und vor ihrem Mann geflohen, der sie ständig misshandelt hat. Am Anfang hat sie verschwiegen, dass ihr Mann noch lebt, aus Angst von KUFA wieder vor die Tür gesetzt zu werden, da eigentlich nur Witwen im Projekt aufgenommen werden. In einem Fernsehbericht über die Eröffnung des Frauen- und Waisenhauses im Dezember 2003 hat ihr Mann sie und ihre Kinder gesehen und sie sofort angezeigt. Am darauf folgenden Tag kam er mit Staatsanwalt und Polizisten zum Projekt, um die sofortige Herausgabe seiner Frau durchzusetzen. Frau Nadra, die Direktorin des Hauses musste viel Mut aufbringen, um dieser Forderung zu widerstehen.

Rafiq Hassib informiert sofort eine Rechtsanwältin und die Internationale Menschenrechtsorganisation von Sima Samar, der ehemaligen Frauenministerin von Afghanistan und bittet um Unterstützung. Als Rafiq Hassib, die Rechtsanwältin und ein Vertreter der Organisation vor Ort eintreffen, ändert sich die Situation schlagartig. Allein durch die Anwesenheit solch offizieller Vertreter kann die Herausgabe der Frau verhindert werden.

Einige Tage später erfuhr die Frau durch ihre Verwandten, dass ihr Mann sie mit ihren Kindern aus dem Projekt herausholen will - tot oder lebendig. Um diese Gefahr auszuschließen wurde von KUFA, in Absprache mit der Anwältin und der Internationalen Menschenrechtsorganisation, entschieden, dass sie zuerst mit ihren Kindern zu ihrem Vater geht, damit in einem gemeinsamen Familienrat beider Parteien über ihr Schicksal verhandelt werden soll. Der Mann hat große Angst sein Gesicht zu verlieren, da es für ihn einen erheblichen Ehrverlust bedeutet, wenn sich seine Frau von ihm trennt. Die Eltern des Mannes sind ebenfalls gegen die Trennung, die Verhandlung im Familienrat scheitert, und es kommt zu einem Gerichtstermin. Bis dahin wird sie bei ihrem Vater untergebracht. Er wohnt in der Nähe des Polizeipräsidenten von Kabul, und dieser hat Versprochen die Frau zu beschützen, damit es kein Blutvergießen gibt.

Am nächsten Tag besuchen wir das Frauen- und Waisenhaus. Der Empfang ist herzlich. Alle kommen gelaufen um uns zu begrüßen und die Hand zu schütteln. Die Kinder bestreuen uns mit Blumen und Konfetti und singen ein Willkommenslied. Dann trinken wir im Büro gemeinsam den traditionellen Begrüßungstee mit Frau Nadra. Frau Nadra ist nicht nur Direktorin des Hauses, sondern auch eine der wenigen Frauen die beide Male in die Loya Dschirga, die große Ratsversammlung der Afghanen gewählt wurde um Präsident Hamid Karzai mit seiner Übergangsregierung zu legitimieren und die Verfassung von Afghanistan zu verabschieden. Anschließend besichtigen wir die Einrichtung und das Gelände. Die Gebäude wurden früher von den Taliban als Schafställe genutzt und waren von Granaten- und Raketeneinschlägen schwer gezeichnet. Vor ca. zwei Jahren hat KUFA die Gebäude von der afghanischen Regierung zur Verfügung bekommen und mit einem Aufwand von 80.000 € hergerichtet.

Neben den erfolgreichen Investitionen in die Bausubstanz, fallen uns einige Mängel auf, die verbesserungs- und restaurierungsbedürftig scheinen. Die Solaranlagen auf dem Dach haben im letzten Winter Frostschäden davongetragen. Rohrleitungen und Fensterscheiben sind geplatzt oder gerissen. Deshalb ist auch das Badezimmer arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Außerdem ist das Dach auf dem neuen Gebäude für die Gemeinschaftsküche noch immer nicht repariert. Der Garten ist noch völlig ungenutzt und auch die Verputzung der Fenster ist mangelhaft. Für uns sind diese Umstände ersteinmal schockierend und alle diese Mängel müssen so schnell wie möglich behoben und neue Persönlichkeiten für die ehrenamtliche Leitung gefunden werden. Nach dem Rundgang ziehen sich Rahman und Fr. Nadra zurück und ich habe die Gelegenheit mich alleine umzuschauen.

Mehrere Kinder folgen mir aufgeregt und neugierig. Sie sind besonders an meiner Kamera interessiert, lieben es von mir fotografiert zu werden und posieren in kleinen Gruppen. Jeder möchte vorne stehen. Einige Kinder spielen unbesorgt im Schatten der Bäume. Aus einem großen schwarzen Topf wird Maisbrei verteilt und ein kleines Mädchen, vielleicht 8 Jahre alt, wäscht Geschirr neben einem alten Fass ab. Das Wasser kommt direkt aus der Unterirdischen Versorgungsleitung des Geländes, aus der alle wasserführenden Anlagen gespeist werden. Die Anlagen, die seit dem Winter durch die Frostschäden nicht mehr funktionieren, werden in den nächsten Tagen wieder Instand gesetzt.

Durch die Kontakte von Hermann Zoder, einem KUFA- Mitglied aus Hamburg, haben wir ein Treffen mit Urs Pfister von der Organisation UNICA. UNICA ist seit 47 Jahren in Afghanistan vertreten und sorgt für die Unterbringung der UN-Mitarbeiter. Früher war UNICA eine Einrichtung der UN. Inzwischen wurde sie privatisiert und ist seither kommerziell ausgerichtet. Seine sieben Gästehäuser im Land bieten Service auf europäischem Niveau unter extremen Sicherheitsbedingungen. Polizeischutz rund um die Uhr, Sprengstoffkontrollen aller Fahrzeuge sowie umfangreiche Überprüfung der Personalien am Eingang.

Hr. Pfister ist der "Country- Manager" von UNICA. Er ist zuständig für die Häuser und das Personal. Auf dem UNICA- Gelände in Kabul wurde im letzten Jahr ein Spielplatz für die Kinder der UN Angehörigen gebaut. Durch die verschärften Regeln für die UN- Mitarbeiter ist der Aufenthalt im Gästehaus für Familienangehörige untersagt worden und der Spielplatz damit überflüssig. Die Geräte, zwei Schaukeln, eine Wippe, eine Rutsche und verschiedene Klettergeräte, bekommt KUFA nun als Spende für die Kinder im Waisenhaus. 

Zum Abendessen fahren wir in ein Restaurant. Wir sitzen bei schwachem Licht an einem langen Holztisch. Es riecht nach gebratenem Fleisch. Um uns herum Männer mit langen Bärten und Fellmützen. Gegessen wird mit den Händen. Ein kleiner Junge, ungefähr sechs Jahre alt, kommt mit einem Stapel Zeitungen in das Restaurant. Er geht von Tisch zu Tisch um sie zu verkaufen. Der junge ist hungrig und wir laden ihn ein. Beim Essen erzählt er uns aus seinem Leben:

Ekbal, der nach eigener Aussage neun Jahre alt ist hat das seltene Glück, in die vierte Klasse eines Gymnasiums gehen zu können. Er muss für den Lebensunterhalt seiner Familie ganz allein aufkommen. Sein Vater, das genaue Alter kann er uns nicht nennen, ist zu alt und zu gebrechlich zum arbeiten, und seine Mutter muss sich den ganzen Tag um ihn kümmern.

Er hat noch eine kleine Schwester, die der Mutter im Haus helfen muss. Nach der Schule, die täglich von 7.00 bis 13.00 Uhr stattfindet, macht er sich auf den Weg zur Zentrale der "Wochenzeitung Kabul", ohne zwischendurch etwas zu essen. Hier kauft er die Zeitungen für sieben Afghani pro Stück um sie mühsam für 10 Afghani zu verkaufen. So ist er ohne Pause, jeden Tag, bis abends um halb neun auf der Strasse unterwegs und spricht Leute an, die danach aussehen, sich eine Zeitung leisten zu können. Jeden Tag macht er so zwischen 50 und 100 Afghani. Das entspricht ein bis zwei Euro. Von diesem Geld kauft er trockenes Brot, Kartoffeln und Tee. Das bisschen Essen trägt er dann den langen Weg nach Hause in den Bezirk Schoda, der etwa 5 Kilometer von dem Restaurant entfernt liegt, um es mit seiner Familie zu teilen.

Am nächsten Tag sitzen wir gerade im Büro von KUFA, als plötzlich Ziar Rahman, ein kleiner rothaariger Junge auftaucht, der gerade im Heim abgegeben wurde. Rahman, freudig überrascht, nimmt ihn sogleich in den Arm und fragt ihn nach seiner Geschichte. Ziar Rahmans Eltern sind tot. Er stammt aus der Provinz Gulbar und ist 8 bis 9 Jahre alt. Bislang lebte er bei seiner Tante in Kabul. Er war noch so klein und hält seine Hand ca. 50 cm über den Boden um es uns zu zeigen, als seine Eltern noch lebten und er mit ihnen in einem Mietshaus in Balar-Esa wohnte. Seine Mutter starb während des Bürgerkrieges durch einen Raketeneinschlag. Sein Vater bringt ihn zu einem Onkel und geht selber in den Iran, um dort zu arbeiten. Drei Jahre später kehrt sein Vater zurück, arbeitet viel und ist selten zu Hause. Der Onkel wird von den Taliban getötet. Ziar Rahman und sein Vater bleiben bei der Witwe und ihren vier Kindern. Kurz darauf kommt sein Vater krank nach Hause und stirbt noch in derselben Nacht. Nun möchte er gerne im Waisenhaus aufgenommen werden. Er kann bleiben und Frau Nadra weißt ihm einen Platz zu. Zuerst wird er gewaschen und bekommt ein paar neue Sachen zum anziehen. Anschließend geht er in seine neue Familie. Die Frau, die ihn aufnimmt, ist Zuwachs gewohnt und freut sich über den Neuzugang. Ziar Rahman ist bei ihr in guten Händen.

Die Einrichtungen von KUFA liegen auf dem zentralen Gelände des Roten Halbmondes in Afschar, einem Randgebiet Kabuls. Der Rote Halbmond ist Mitglied des internationalen Roten Kreuzes. Bei einem Spaziergang über das Gelände begegnet uns Herr Amini, Planungsbeauftragter des Roten Halbmonds. Rahman erzählt ihm von dem Vorhaben, hier noch weitere Projekte aufzubauen. Dafür benötigt KUFA neue Räumlichkeiten. Hr. Amini bietet ein zweistöckiges Gebäude gegenüber vom Heimgelände an. Bis auf wenige Granateinschläge scheint es gut erhalten. Keine einfache Entscheidung, denn die Investitionskosten sind hoch und das Spendenaufkommen niedrig.

Neben den großen Lageräumen des Roten Halbmondes bildet sich eine Menschentraube um den Präsidenten der Organisation, Herrn Hadschi Karabik. Dieser Mann ist gerade dabei Lebensmittel, Zelte und Medikamente zu verteilen. Viele der Hilfesuchenden, meist Frauen in blauen Burkas um anonym zu bleiben, halten Zettel in die Luft, auf denen sie die das Notwendigste notiert haben- meist Lebensmittel und Kleidung.

Am Abend verabredet Rahman ein Treffen mit Hadschi Karabik für den nächsten Tag. Bei diesem herzlichen Telefonat macht Rahman ihn humorvoll darauf aufmerksam, dass er hier hungrig mit seinen 15 Frauen und 60 Kindern im Heim sitzt und auch gut etwas von seinen großzügigen Gaben gebrauchen könnte.

Am nächsten Tag wird dieser Wunsch Wirklichkeit. Hadschi Karabik bringt persönlich für jede Familie und sogar für die Angestellten im Frauen- und Waisenhaus 24 Kg Reis und Mehl, je einen 10 l Kanister Öl und zwei Kg Tee vorbei. Zusätzlich verspricht er, KUFA von nun an jeden Monat mit diesen Lebensmitteln zu versorgen. Auch um die noch fehlenden Nähmaschinen wird er sich umgehend kümmern. Frau Nadra kann ihre Freude kaum verbergen.

Währenddessen mitten in Kabul: Durch gelegentliche Regenschauer, ist die sonst so staubige Luft heute sehr angenehm. Im Stadtteil Schar-i-Nau, liegt ein großer Park. Die Bäume blühen, viele Menschen gehen spazieren und Kinder spielen Fuß- oder Basketball. Neben dem Park ist ein neues Kino, das mit indischen Filmplakaten wirbt, die in knallbunten Farben von der Sandsteinmauer des Gebäudes herunterleuchten. Im Kontrast zu den eher unauffällig gekleideten Menschen, wirken die geschminkten und sehr freizügig dargestellten Schauspieler wie ein Fremdkörper in der Stadt.

Einige Strassen weiter befindet sich die Niederlassung der Massoud Foundation. Diese unabhängige Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Entwicklung innerhalb der Bevölkerung von Afghanistan mit den prophetischen Visionen des großen Nationalhelden Ahmad Schah Massoud, zu einer selbsttragenden Gesellschaft voranzutreiben und den Frieden, die nationale Einheit, Gerechtigkeit, Schutz, Förderung der Menschenrechte und wirtschaftlichen Wohlstand, unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht oder Alter, im Land wieder aufzubauen. Hier treffen wir uns mit Sayed Ahmad Hashimi, dem Geschäftsführer der Massoud Foundation. Bereits vor zwei Jahren, bei einem Besuch von KUFA in Afghanistan, hat Rahman den Gründer der Organisation, Ahmad Wali Massoud, einen Bruder von Ahmad Schah Massoud kennen gelernt. 

Da KUFA im Bereich der humanitären Hilfe gleiche Ziele verfolgt, ist eine Zusammenarbeit mit der Massoud Foundation zustande gekommen. Die Arbeit von der Foundation ist für KUFA eine willkommene Erweiterung.

Die Organisation verfügt über viele Medikamente und Nahrungsmittel die sich im Eingangsbereich bis unter die Decke stapeln. KUFA bekommt davon einige Sachspenden, die Frau Nadra und ich einige Tage später abholen können. Dabei verständigen wir uns nur über Zeichensprache. Ein Umstand, der unsere Unterhaltungen immer sehr witzig werden lässt und wir lachen herzlich über die gegenseitige Unbeholfenheit.

Kistenweise Medikamente mit Hustensaft, Antibiotika, fiebersenkenden Mitteln und Multivitamintabletten wandern mit mehr als 20 Decken und fünf Zelten in unser Auto. Vollgepackt und mit strahlenden Gesichtern geht es los in Richtung Heim um die Sachen abzuliefern.

Auf dem Weg halten wir an einem kleinen Feld, um zwei große Säcke Salat zu kaufen denn morgen ist Freitag, der wöchentliche Feiertag in Afghanistan, und wir planen ein großes Fest.

Am Morgen machen Rahman und ich uns auf den Weg um Prof. Dr. Said Mohammad Hosseini abzuholen. Er ist ein Verwandter und Lehrer von Rahman und heute unser Ehrengast. Dieser alte und sehr weise Afghane lebt in Deutschland und ist im Auftrag der Universität Bonn zurückgekommen um an der Universität in Kabul zu unterrichten und beim Wiederaufbau zu helfen. Sein Spezialgebiet ist die Physik, in der er Jahrzehntelang geforscht hat.

Geboren ist der kleine Mann mit der beeindruckenden Ausstrahlung 1929 in Kabul. 1956 erhält er ein Stipendium für Deutschland. Nach seiner Promotion 1960 kehrt er zurück nach Kabul um dort den Lehrstuhl für Experimentalphysik anzunehmen. Die Zeit von 1960 bis 1980 bezeichnet er selber als "Goldenes Zeitalter" für Afghanistan, denn die Forschung im Bereich der Bio- und Geowissenschaften erlebte damals einen Aufschwung, den es bis dahin nicht gegeben hatte und der mit dem Einmarsch der Russen jäh unterbrochen wurde. Das Niveau der Lehre war in dieser Zeit so hoch, dass Studenten aus den Nachbarländern nach Kabul strömten, um dort unterrichtet zu werden.In den 70´er Jahren war Prof. Hosseini Dekan der Universität und es wurden neben der Partnerschaft der naturwissenschaftlichen Fakultät Kabul mit der Universität Bonn, Beziehungen auch von der wirtschaftlichen Fakultät mit den Universitäten in Köln und Bochum aufgebaut.

Damals konnte ohne Probleme im Land geforscht werden. Naturwissenschaftler aus aller Welt waren im Feld unterwegs und haben ohne Angst vor Mienen ihrer Arbeit nachgehen können. Nach dem Einmarsch der Russen 1979, ging Prof. Hosseini zurück nach Deutschland ins Exil und war bis heute in der Forschung tätig.

Für den heutigen Tag ist ein besonderes Essen vorbereitet worden. Wir sitzen alle zusammen am Destachan, dem traditionellen Tuch auf dem Boden, der als Tischfläche dient. Es gibt Sabschi- Tschalau, einen weißen Reis mit Spinat und Lammfleisch. Dazu Coca Cola. Alle genießen das Essen und erzählen sich Geschichten, lachen über Witze und grüßen immer wieder dankbar in unsere Richtung. Nach dem Essen machen wir einen Rundgang mit Prof. Hosseini über das Gelände. Anschließend setzen wir uns im Schneideraum zusammen und gucken den Film über die Entstehungsgeschichte des Frauen- und Waisenhauses. Sich selbst im Fernsehen sehen zu können, ist etwas ganz besonderes für die Frauen und Kinder. Die Freude ist groß, auch wenn sie den deutschen Text nicht verstehen können.

Am nächsten Tag: im KUFA Projekt geht es weiter voran. Ein Gärtner kümmert sich um das Gelände und legt einen kleinen Gemüsegarten an. Auch die Wasserversorgung funktioniert wieder.

Wir erwarten einen wichtigen Gast. Dr. Baluch, einer der ersten Mitbegründer von KUFA- Einrichtungen in Pescharwar/ Pakistan 1980, besucht das Projekt. Rahman und er sind langjährige Freunde und mittlerweile ist Dr. Baluch einer der wichtigsten Männer für humanitäre Fragen beim Wiederaufbau von Afghanistan. Auf den beiden Reisen von Karsai nach Deutschland, war er als Fachmann für die humanitäre Arbeit mit dabei.

KUFA braucht einen verantwortlichen Koordinator für all seine Projekte in Afghanistan. Dr. Baluch wäre der geeignete Mann und Rahman möchte ihn gerne dafür gewinnen. Schon nach kurzer Zeit sind sich die alten Freunde einig und Rahman stellt ihm die entsprechenden Vollmachten aus.
Nach einer ausgiebigen Besichtigung des Geländes verabreden wir uns um eine Bekannte von Dr. Baluch zu treffen.

Bei der DED treffen wir auf Jutta Burger, Beauftragte für Nichtregierungsorganisationen (NGO). Mit ihr reden wir über das Frauen- und Waisenhaus Projekt von KUFA. Die DED fördert unterschiedlichste Projekte im ganzen Land. Nachdem allerdings in Kabul und Umgebung die NGOs wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, deren Hauptinteresse die finanzielle Förderung und nicht die humanitäre Hilfe war, hat die DED ihr Engagement in die Provinzen verlegt. Aber Jutta Burger findet unser Projekt interessant und förderungswürdig. Leider bleibt uns nun keine Zeit mehr, um hier vor Ort weiter aktiv zu sein. Die zwei Wochen sind wie im Fluge vergangen, doch haben wir jetzt Dr. Baluch an unserer Seite, der weiterhin vor Ort anwesend ist um sich um die KUFA Projekte mit seiner Erfahrung zu kümmern.

Im Rahmen unserer Reise nach Afghanistan haben wir einige Treffen gehabt, die vielleicht nicht unmittelbar etwas mit dem KUFA- Projekt zu tun hatten. Dennoch macht es zurzeit Sinn, sich mit den vielen politischen Strömungen im Land auszutauschen. Wir bekamen Besuch im Hotelzimmer von Dr. Mohajudin Mehdi, einem der einflussreichsten Oppositionsführer im Land. Auch wenn das Gespräch nicht zu konkreten Vereinbarungen führte, verlief es in einer sehr freundlichen Atmosphäre und war für mich sehr beeindruckend.

Im Juni 1979 kommt Massoud mit siebzig Widerstandskämpfern von Peschawar nach Parwan, um dort seine erste Offensive gegen die russischen Truppen vorzubereiten. Dr. Mehdi schickte einige Abgesandte zu Massoud, um ein Treffen zu vereinbaren. Sie waren sich zwar bis zu diesem Zeitpunkt noch nie begegnet, wussten aber von dem anderen, da sich ihre Väter sehr gut kannten. Zwei Tage später kamen die Gesandten mit der Nachricht zurück, er möge sich unverzüglich auf den Weg machen, um Massoud zu treffen. Am gleichen Abend noch, begab er sich auf den Weg über die Berge in die Wüste Dascht- e- Rewat, um den Mann zu treffen, mit dem er jahrelang Schulter an Schulter für die Befreiung kämpfen wird, zuerst von den Russen und später von den Taliban.

Massoud wollte nie, dass Dr. Mehdi eine Waffe in die Hand nehmen muss. Doch als die Russen die Provinz Andarab eingenommen hatten, blieb Massoud keine andere Wahl, ihn als Kommandanten dorthin zu schicken. Nach einem Jahr des Widerstandes hatte er die Provinz erfolgreich zurückgewonnen. Wegen den langen Kämpfen im Land, alleine 10 Großoffensiven der Sowjets im Pandschir- Tal, wurde eine Konferenz über die Zukunft Afghanistans in der Schweiz einberufen. An der Konferenz nahmen neben Afghanistan auch die angrenzenden Staaten Pakistan, Russland, Iran und China teil. Es wurde über die Zusammensetzung der nächsten Regierung Afghanistans diskutiert und Mehdi war der Meinung, dass die Mudschahedin unbedingt vertreten sein sollten, sonst wäre diese Konferenz sinnlos.

Zajaf, der Führer der Islamischen Einheitspartei stellte sich gegen diese Meinung und war selber davon überzeugt, nicht mit den Verlierern des Krieges verhandeln zu müssen. Damit hat er, nach der Meinung von Mehdi, das Schicksal des afghanischen Volkes in die Hände des pakistanischen Geheimdienstes gelegt. Das ganze Elend, der Bürgerkrieg und die Herrschaft der Taliban, sind alles Ergebnisse dieser Entscheidung. Nach dem Attentat auf Massoud kümmerte sich Dr. Mehdi lange Zeit um die Belange der Massoud Foundation.

Unser nächstes herzliches und überraschendes Treffen haben wir mit Dr. Dadfar in einem Restaurant in Kabul. Dr. Dadfar ist ein alter Freund von Rahman und auch Leiter von KUFA Projekten in Pakistan (1983-1986). Er lebt mit seiner Familie schon lange Zeit in Deutschland. Nun ist er nach Afghanistan zurückgekehrt um sich ebenfalls aktiv an dem Wiederaufbau des Landes zu beteiligen. Dieser Mann spielt eine wichtige Rolle bei der politischen Entwicklung Afghanistans zu einem demokratischen Staat. Vor zwei Wochen noch saß Dadfar mit einigen anderen Persönlichkeiten des Landes und Heide Simonis, der Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, genau in diesem Restaurant und hat mit ihr über die Zukunft von Afghanistan gesprochen. Jetzt wird er als künftiger Gouverneur von Mazar-i-Scharif gehandelt, eine der einflussreichsten Provinzen im Norden des Landes. In dieser Region liegen die großen Erdgasreserven, und es wird viel Opium angebaut, mit dessen Erlös die beiden rivalisierenden Warlords Dostum und Ustad Atah ihren Kampf um die Vorherrschaft des Gebietes finanzieren. Hier leben sehr viele Usbeken und Tadschiken. Für Dr. Dadfar bedeutet dies eine schwierige Aufgabe, die beiden rivalisierenden Volksstämme zu einen und Frieden in diese Provinz des Landes zu bringen. 

Der letzte Tag unserer Reise ist gekommen und es wird eine Abschiedsfeier für uns veranstaltet. Begonnen wird die Feier wie üblich mit einigen Versen aus dem Koran, die von einem 10-jährigen Mädchen vorgetragen werden. Danach folgen die Reden der beiden Direktorinnen Frau Nadra und Frau Gitti, in denen sie den aktuellen Stand des Projekts erläutern und sich für die Unterstützung durch KUFA bedanken.

Rahman Nadjafi weißt noch einmal auf die Grundidee hin, die hinter diesem Projekt steht. Die Hilfe zur Selbsthilfe und die selbständige Vermarktung eigener Produkte.
Die Kinder tragen heute ihre Festtagskleidung und sind hellauf begeistert ihre einstudierten Gesänge und Gedichte vorzutragen. Dann bringen die Mütter Tee und Kekse herein um die Gäste zu bewirten. Die Kinder freuen sich wieder vor meiner Kamera zu posieren.

Dieser herzliche Moment wird unterbrochen von der Geschichte einer Mutter, dessen älteste Tochter als Patenkind von einer deutschen Familie finanziell unterstützt wird.
Die Frau heißt Rokier und hat noch drei Kinder, zwei sind bei einem schweren Autounfall ums Leben gekommen, bei denen alle acht Insassen, auch ihr Mann und zwei weitere Schwager gestorben sind. Damit hat sie keine männlichen Versorger mehr in ihrer Familie und große Schwierigkeiten, genug Geld zum leben aufzubringen. Trotzdem wohnt sie in ihren eigenen vier Wänden und kann ihre Kinder zur Schule schicken. Nilofar, das Patenkind, ist 10 Jahre alt und geht mit dem 11 jährigen Bruder Ahmad Navid in die sechste Klasse der Schule Nr. 19 in Chamal mina. Hier ist auch Wahid, der kleine sieben jährige Bruder in der ersten Klasse eingeschult worden. Rokier ist sehr darum bemüht, ihren Kindern eine glücklichere Zukunft bieten zu können und hat sich deshalb an KUFA mit der Bitte um Hilfe gewandt.

Viele Familien in Afghanistan erleben das gleiche Schicksal wie diese Frau und bedürfen der Hilfe von Außen, um überhaupt menschenwürdig existieren zu können.
Als Dank für die Unterstützung bringt die Familie einen Brief ins Heim, den Rahman an die Patenfamilie weiterleiten wird. Unter Tränen des Abschieds und vielen Glückwünschen für die Zukunft verlassen wir das Projekt und treten früh am nächsten Morgen unsere Heimreise an.

Die Menschen, die in diesem vom 25 jährigen Krieg gebeutelten Land leben, sind meist von einer Melancholie geprägt, die gemischt mit ihrer Herzlichkeit, den Alltag noch immer beeinflusst. In der Zeit, in der man nicht Wissen konnte ob man überhaupt die nächste Stunde überlebt, entwickelte sich ein Bewusstsein, das von religiös geprägter Hingabe dominiert wurde. Die Zukunft war für jedermann so ungewiss, dass es für die meisten gar nicht lohnenswert erschien, einen Gedanken daran zu verschwenden. Das Prinzip von der Hand in den Mund zu leben und den Moment so gut es geht zu leben, hatte sich mehr und mehr in der Gesellschaft durchgesetzt.

Heute ist es deshalb so schwierig, nachhaltige Strukturen im Denken und Handeln der Menschen zu verankern und die Hoffnung auf eine Zukunft zu wecken, die selbstbestimmt und voller Möglichkeiten ist. Die Kraft und Energie für solch eine Zukunft ist hier überall vorhanden und muss nur in der Anfangszeit durch Hilfestellung von außen gefördert werden, damit das Land in Zukunft nicht an seiner Vergangenheit scheitert. Die Menschen brauchen erst einmal eine Perspektive, damit ihre Gesellschaft selbstständig einen Platz in der modernen Welt findet. KUFA arbeitet seit Beginn des Wiederaufbaus erfolgreich mit den Gegebenheiten im Land und bietet Möglichkeiten für die Benachteiligten, einen Platz in der Gesellschaft zu finden in dem sie sich eine eigene Lebensgrundlage aufbauen können. 

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