Wolfgang Weirauch
Erschienen in den "FLENSBURGER HEFTEN", Ausgabe 77 (Sommer 2002)
Afghanistan - kein Land hat uns in den letzten Monaten so beschäftigt wie dieses! Aber wie war es vorher? Was wußten Sie vor zwei, drei Jahren alles über Afghanistan? Waren Ihnen die Namen Amanullah, Sahir Schah, Massoud, Hekmatyar, Rabbani, Dostum, Karsai ein Begriff? Welche Wahrnehmungen hatten Sie von dem Taliban-Regime?
Falls Sie keine Kenntnis der Taliban hatten, trösten Sie sich. Auch der sogenannte mächtigste Mann der Welt, George W. Bush, kennt sie noch nicht allzu lange und dachte früher, daß es eine Musikgruppe sei. Ein Land wie Afghanistan war kaum im Bewußtsein der westlichen Welt, und nur, wer sich politisch täglich auf dem Laufenden hielt, bekam einen Einblick in die afghanischen Verhältnisse der letzten Jahrzehnte. Aber was man erfuhr, hörte, sah, war verwirrend, oft kaum zu glauben, geheimnisvoll, grausam. Ein Land hinter dem Schleier - undurchdringlich, verborgen wie das Gesicht einer Frau hinter der Burka.
Und als die Taliban das Land 1994-1996 fast ganz eroberten, legte sich etwas wie Mehltau über das Land. Die Informationen wurden selbst für wache Zeitgenossen äußerst spärlich, fast alle Verbindungen zum Ausland brachen ab, aber wer nicht die Augen verschloß, wußte, daß in diesem Land das Grauen wütete. Der Schrecken vor allem für die Frauen. Die Hälfte der Bevölkerung verschwand endgültig hinter der Burka, durfte nicht mehr arbeiten, bekam keine medizinische Versorgung mehr. Viele Frauen verhungerten, flohen ins Ausland, wurden gefoltert, erschossen, bettelten auf den Straßen oder vegetierten in den eigenen vier Wänden dahin; mit Ausnahme der mutigen Frauen, die heimlich Schulunterricht gaben.
Nur ein einsamer Kämpfer mit seiner Truppe, sicherlich auch kein Engel - Massoud und seine Nordallianz - , leistete dem Taliban-Regime vom Norden Afghanistans und aus dem Pandschirtal heraus als einziger Widerstand; eigentlich der einzige Hoffnungsschimmer in diesem Reich der Finsternis.
Afghanistan - Hinterhof der Welt, ärmstes Land der Welt, keine Fernseher, keine Telefone, keinen Internet-Anschluß, keine Musik. Nichts! So sah es noch vor einigen Monaten aus. Aber war es wirklich so?
Afghanistan wird zum Mittelpunkt der Welt
Und dann wurde der Schleier etwas gehoben, man rieb sich etwas verdutzt die Augen. Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Was war denn das? Die Taliban kündigten im Februar 2001 die Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamyan an! Was war da los? Haben Sie das verstanden oder in den Tagen nach der Ankündigung geglaubt, daß dieses Zerstörungswerk wirklich in die Tat umgesetzt wird? Aber die Taliban vollendeten ihr Werk. Sie schossen auf die beiden Buddhas, dieses Weltkulturerbe aus dem 3. und 5. Jahrhundert, und sprengten sie schließlich. Das war eine Tat, an der man irre werden konnte, weil man sie nicht mehr verstand, und die geeignet schien, auch die Grenzen der Erkenntnis zu sprengen. Die Welt horchte auf, aber schon bald legte sich wieder der Staub auf das Land. Dinge, die ungewohnt sind, die man nicht einordnen kann, verdrängt man gern. Afghanistan geriet wieder in Vergessenheit. Aber es war die Ruhe vor dem Sturm.
Und dann kam er, der 11.09.2001, und alles änderte sich. Afghanistan wurde schlagartig zum Mittelpunkt der Welt. Und so langsam setzte sich ein schillerndes Mosaikbild zusammen: ein vielschichtiges Afghanistan, das längst, seit Jahrzehnten, Mittelpunkt verschiedenster internationaler Interessen war.
Afghanistan ist ein Zerrbild unserer modernen Zeit, ein Spiegel aller nur möglichen Schattenseiten der internationalen Politik und der menschlichen Niederungen - und ein Schatten ist finsterer als der andere. Afghanistan ist Abbild der Zerrissenheit unserer Welt, der Großmachtinteressen, des Kalten Krieges, der unterschiedlichen Wertesysteme, der verschiedenen Religionen, der gegensätzlichen Nationalismen, der menschlichen Gier und Profitsucht, der Grausamkeit und des Machtstrebens.
Und wer sind die Schuldigen?
Die Briten und die konservativen Geistlichen Afghanistans, die die Reformen König Amanullahs vor ca. 75 Jahren torpedierten? Der ehemalige König Sahir Schah und seine Familie, die nur sehr zögerliche Demokratieversuche wagten? Die verschiedenen unfähigen, teils korrupten, grausamen Regierungen? Das kommunistische Regime, das die Sowjets ins Land rief? Die UdSSR, die zehn Jahre in einem souveränen Staat gewaltsam für Ruhe sorgen wollte? Die USA, die die Mudschaheddin finanziell und militärisch zum Kampf gegen die UdSSR aufrüsteten, um sich das Zugriffsrecht auf die Rohstoffe der Region zu sichern? Pakistan, das mit allen Mitteln seine Interessen in Afghanistan durchsetzen wollte? Die verschiedenen Mudschaheddin-Gruppen, die fast ganz Afghanistan zerstörten und aufgrund egoistischer Machtinteressen zu keiner gemeinsamen, für das WohI des Landes tragfähigen Regierung fähig waren? Die CIA, die nicht nur die Mudschaheddin finanzierte, sondern mit den Taliban, Osama bin Laden und Al-Qaida ihre Gegner von morgen unterstützte? Der pakistanische Geheimdienst ISI, der den Aufbau von Koranschulen forcierte, die Taliban militärisch ausbildete und mit dem internationalen Terrorismus kooperierte? Das Taliban-Regime, das das Land in die Steinzeit zurückführte? Die Golfstaaten, die das Taliban-Regime und Al-Qaida massiv finanziell unterstützten? Al-Qaida, die Afghanistan zum weltgrößten Anbaugebiet für Opium machte und das Land zur Basis des internationalen Terrorismus umgestaltete? Die einzelnen politischen und wirtschaftlichen Interessen vieler westlicher, arabischer und asiatischer Staaten, die am Leid anderer durch Waffen- und Minenverkäufe usw. verdienten? Die mangelhafte Bildung, die Religion? Die Afghanen, die Demokratie und einen modernen Staat ablehnten? Wir alle, die wir unsere Augen vor dem Grauen in diesem Land verschlossen?
Wer trägt nun die Verantwortung für das jahrzehntelange Grauen in diesem Land?
Position beziehen
Der 11. September 2001 katapultierte Afghanistan hautnah ins Wohnzimmer aller Menschen. Schon zwei Tage vorher war Massoud von zwei Al Qaida-Mitgliedern umgebracht worden, die sich als Journalisten ausgaben. Osama bin Laden und seine Komplizen hatten ihre Basis vor allem in Afghanistan aufgebaut, und das Regime Mullah Omars kooperierte mit ihnen.
Alle geheimen Verhandlungen der Clinton- und der Bush-Administration mit den Taliban - bis zum Juli 2001 - waren ergebnislos verlaufen. Die USA standen vor dem Scherbenhaufen ihrer geopolitischen Strategie, u.a. eine Pipeline von Turkmenistan durch Afghanistan und Pakistan zum Indischen Ozean zu verlegen. Die Partner, auf die man während der Jahre gesetzt hatte - die verschiedenen Mudschaheddin-Gruppen und später die Taliban -, hatten nicht die Hoffnungen der USA erfüllt und konnten ihre Ziele nicht durchsetzen. Afghanistan kam nicht zur Ruhe.
Und nun wurden die USA am 11. September 2001 vom internationalen Terrorismus angegriffen und mußten sich wehren, um einen Zweitschlag von ähnlicher Dimension zu verhindern. Damit zeigte sich die Widersprüchlichkeit der Weltpolitik: Einerseits kam in gewisser Hinsicht den USA der Anschlag sogar wie gerufen, denn nun konnten sie einen militärischen Schlag legitimieren und kamen der Durchsetzung ihrer Interessen - der möglichst günstigen Gewinnung von Rohstoffen im vorder- und zentralasiatischen Raum - einen Schritt näher; andererseits verflog der Mehltau, der Afghanistan zu ersticken drohte, wie nach einern reinigenden Gewitter. Die Taliban flohen, besiegt durch das Zusammenwirken der Nordallianz und die Militärschläge der USA. Alle Frauen und viele Männer konnten aufatmen.
Afghanistan drang nicht nur in unsere Wohnzimmer, sondern auch in unsere Seelen, in unsere Gedanken, in unsere Entscheidungsprozesse. Jeder mußte Position beziehen: Bin ich für oder gegen den Krieg gegen den internationalen Terrorismus, für den Afghanistan stellvertretend seinen Buckel hinhalten mußte? Und die Entscheidung war sicherlich nicht leicht. Aber jeder mußte sie treffen, denn die Auswirkungen spürte jeder auf verschiedensten Feldern des persönlichen Lebens, bis hinein in das eigene Portemonnaie.
Fragen
Vielleicht ging es Ihnen ähnlich wie mir. Das ferne Land Afghanistan, mit dem ich mich in den vergangenen Jahren immer nur am Rande beschäftigt hatte, wurde durch die politischen Geschehnisse und die Bilder, die man sah, immer gegenwärtiger. Bilder von Frauen in Burkas, Bilder vom zerstörten Kabul, Bilder von bärtigen Taliban, Bilder von hingerichteten Frauen und Männern im Stadion Kabuls.
Afghanistan wurde für mich zu einem fast täglichen Beschäfrigungsfeld. Ich stellte mir Fragen über die Taliban, wie es möglich war, daß eine Gruppe von Männern ein ganzes Land in die Steinzeit führen und den Frauen ein menschliches Leben verunmöglichen konnte. Oder wie es kam, daß die Menschen eines Staates sich in ihre Ethnien zersplitterten und sich ohne jede Aussicht auf Frieden aus niedersten Motiven brutalst bekämpften. Oder warum das Ausland ein so starkes Interesse an diesem Land zeigte. Oder wie es möglich war, daß die Islamisten, Dschihadisten und internationalen Terroristen einen solchen Hass auf die westliche Welt, speziell auf die USA, entwickeln konnten.
Diese und viele andere Fragen stellte ich mir, und der Nebel, der über den politischen Geschehnissen in und um Afghanistan hing, lichtete sich von Tag zu Tag. Aber alle Beschäftigung war nur theoretisch, auch wenn sie das Innerste des Menschen berührte.
Die Aufforderung
Dann machte ich ein Interview mit Rahman Nadjafi über Afghanistan und die Aktivitäten von Kufa e.V. (Komitee zur Unterstützung der Flüchtlinge in Afghanistan und zum Wiederaufbau des zerstörten Landes), vor allem über den Plan, in Kabul eine Wohn- und Arbeitsstätte für 80 Waisenkinder und 20 Witwen zu errichten (siehe FLENSBURGER HEFTE 76, "Kampf der Kulturen?", S. 11). In diesem Zusammenhang plante er zusammen mit Ole Ohlenbostel, Speditionskaufmann und Unternehmensberater aus Hamburg und auch Kufa-Mitglied, eine Reise nach Afghanistan anzutreten.
Etwas unbedarft, erfüllt von den politischen Geschehnissen der letzten Monate, warf ich in einem späteren Gespräch mit Rahman Nadjafi ein, daß ich irgendwann in meinem Leben noch einmal nach Afghanistan reisen möchte. Und sofort kam die Aufforderung: "Dann komm doch mit!" - Und mit einem Mal wurde das Realität, was vorher nur bloße Theorie war. Afghanistan wurde konkret, rückte hautnah heran. Ich gab mir selbst einige Tage Überlegungsfrist, wog die Vor- und Nachteile ab. Dann entschied ich mich, die Reise nach Afghanistan anzutreten.
Die Vorbereitung
Mulmig war mir, das gebe ich zu. Schließlich war die Reise nicht ohne Risiko. Die Warlords beherrschten noch immer das Land, auch wenn Kabul, zumindest am Tage, verhältnismäßig sicher ist. Das Land ist voller Minen. Hunderttausend Menschen in Kabul haben Leishmaniose, eine Hauterkrankung mit Geschwüren und teils schweren Deformationen, ausgelöst durch den Stich der Sandfliege. Der Krieg gegen die Taliban tobt immer noch in verschiedenen Regionen Afghanistans. Attentate, kleinere Gefechte, Raketenanschläge kommen fast täglich vor. Und im Norden waren gerade die Heuschrecken eingefallen und fraßen alles auf.
Den Flug mußten wir über Dubai buchen, den Weiterflug nach Kabul dort kaufen, aber der Rückflug von Kabul nach Dubai war von Deutschland und auch von Dubai aus nicht buchbar. Das konnte man nur in Kabul, weil die afghanische Fluggesellschaft Ariana keinen Internet-AnschIuß besitzt. Also wurde es von vornherein eine Reise ohne exakte Rückkehr-Garantie.
Die Reise
Emirates, eine der beliebtesten Fluggesellschaften der Welt, brachte uns Anfang Mai nach Dubai, in die Vereinigten Arabischen Emirate. Links Wüste, rechts das Meer, unter uns Öl. Allein das Emirat Dubai besitzt 9,2 % der Weltölreserven. Die Auswirkungen dieses Reichtums sieht man bereits auf dem Flughafen: die Fußböden teils aus Marmor, überall glitzert es, riesige Hallen mit Förderbändern für die Fußgänger und Elektrowagen für die, die schwer beladen sind. Und so geht es weiter: das teuerste Hotel der Welt, Pläne, ein Wintersportzentrum zu errichten und zwei riesige künstliche Inseln in der Form von Palmen vor der Küste zu bauen. Kaum einer der Einheimischen arbeitet, selbst die Gastarbeiter bekommen kostenlose medizinische Versorgung. "Für das Portemonnaie gut, für die Seele schlecht", antwortete mir ein Inder auf meine Frage, wie es sich in Dubai lebe. Nach einer kurzen Nacht in Dubai starteten wir mit dem Flugzeug der Ariana nach Kabul, 150 Sitzplätze, alle belegt. "Während der Taliban-Zeit flogen 260 Leute mit dieser Maschine", erzählte uns einer der Stewards während des Starts, als er mit beiden Händen - wie seine Kollegen auch - die oberen Gepäckfächer zuhalten mußte, weil sie fortwährend aufsprangen.
Die Ankunft
Und dann flogen wir über den Iran auf Afghanistan zu, das Land, das an der Nahtstelle zwischen dem Vorderen Orient und der Mitte Asiens liegt, das Land, das einst Alexander der Große durchzogen hat und später von Persern, Arabern und Mongolen erobert wurde und erstmals 1747 unter dem Paschtunen Durrani zu einem Staat wurde.
Wir überfliegen Wüsten und braungraue Gebirgsketten, hin und wieder schneebedeckt, bis wir uns Kabul nähern. Was wird uns erwarten? Zwei Tage vor uns hatte Bundeskanzler Schröder Kabul besucht, das erste westliche Staatsoberhaupt, das die Stadt besichtigte. Nur Tony Blair war schon vorher da, allerdings hatte er den Flugplatz nicht verlassen.
Und dann stehen wir auf dem Flugplatz. Für die meisten afghanischen Fluggäste ist es die erste Rückkehr nach Jahrzehnten des Schreckens. Die Außenbereiche des Flughafens sind übersät mit zerbombten Flugzeugen, Panzerwracks und ausgebrannten Lkws.
Massoud
Kein Bus holte uns ab, wir mußten zu Fuß zur Flugabfertigungshalle gehen, warum auch nicht. Aber dort erwartete uns gleich die afghanische Bürokratie: die verschiedensten Zoll- und Paßformalitäten in einer völlig primitiven Halle ohne jede Ausstattung, bewacht vom Militär.
Wir wählten den schnellsten Weg, den Weg der Beziehungen. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus, als Rahman Nadjafi einen Soldaten heranwinkte, der erkennbar zur Nordallianz gehörte, das FLENSBURGER HEFT 76 aus der Tasche zog und ihm das Bild von sich und Massoud - aufgenommen in Paris im Sommer 2001 - zeigte (siehe FLENSBURGER HEFTE 76, "Kampfder Kulturen?", S.23). Sofort erledigte der Soldat alle Forrnalitäten für uns und schleuste uns durch.
Massoud ist in Kabul derzeit der große Held, und man sieht sein Bild an fast jeder Straßenecke. Als wir uns ein Taxi nahmen, um ein Hotel zu suchen, erwiesen sich die beiden jungen Fahrer als ehemalige Massoud Kämpfer, küßten das Massoud-Bild im FLENSBURGER HEFT und standen uns fortan zur Verfügung.
Das Interconti-Hotel, bewacht von ISAF-Soldaten, war leider besetzt, und wir hatten keine Chance, ein Zimmer zu bekommen. Aber dann zückten wit das FLENSBURGER HEFT, und schon waren die gewünschten Zimmer frei.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt war mit klar, daß die Uhren in Kabul anders ticken. Und das sogar im wahrsten Sinne des Wortes, denn die Uhren mußten nicht wie in Dubai zwei Stunden vorgesteilt werden, sondern zweieinhalb Stunden, ein Phänomen, das mir bis heute unergründlich geblieben ist.
Die Stadt, das Hotel, die Hunde
Das Interconti ist ein ehemaliges Luxushotel, in dem aber die Taliban sichtbar gehaust haben. Die Empfangshalle in abgestandenem Prunk, manche Flure vollgestellt mit Wassereimern, weil es aus den Leitungen tropfte, ein Fahrstuhl funktionierte noch, soweit der Strom nicht ausfiel, und eines unserer Zimmer war übersät mit Einschußlöchern und Blutspritzern. Die Kellner tragen immer noch die jahrzehntealten braunen, leicht unförmigen Anzüge mit den breiten roten oder blauen Streifen und servieren das Essen zu immensen Preisen.
Die abendlichen Stunden im Hotel - nach der Ausgangssperre um 22 Uhr - hatten den Vorteil, daß man Kontakte knüpfen konnte. Verschiedene Minister wohnen dort, Mitglieder der Königsfamilie, Industrielle, Künstler, Politiker. An einem Tag stieg sogar der chinesische Außenminister ab.
Der abendliche Blick vom höhergelegenen Hotel in das Tal der Stadt bescherte uns einen mäßig zufriedenen Eindruck. So schlimm, wie wir es uns vorgesteilt hatten, war es nicht. Noch nie habe ich auf eine totenstille Großstadt geblickt, in Kabul war es täglich etwa eine Stunde möglich. Die Nacht brach herein, die Stadt wurde still, kein Auto durfte mehr fahren, aber in vielen Häusern leuchteten bereits die Lichter. Aber bald war es aus mit der Nachtruhe: Die wilden Hunde fielen in die Stadt ein und beherrschten wenigstens akustisch das Geschehen. Viele von ihnen sollen die Tollwut haben und werden nun von Jägern gejagt.
Beim König
Bereits am ersten Tag lud uns Yussef Yakoub - Mitglied der königlichen Großfamilie, Industrieller in München und mittlerweile Wirtschaftsattaché Afghanistans - zu einer Audienz beim ehemaligen König Sahir Schah ein.
Nach 29 Jahren ist der 87jährige ehemalige König Afghanistans im April 2002 zum ersten Mal wieder in seine Heimat zurückgekehrt und empfängt seitdem fast täglich Hunderte von Menschen, die aus den einzelnen Provinzen zu ihm anreisen.
Wir erlebten verschiedene dieser Audienzen. Die Afghanen schritten in Gruppen herein, zwischen Rosenbeeten hindurch, die ein alter Gärtner liebevoll pflegte, und sie setzten sich vor eine Empore mit Baldachin. Gekleidet waren sie meist mit dem Schalwar Kamiz, der afghanischen Nationaltracht, weiten Hosen und einem über das Knie reichenden Hemd sowie einem Turban.
Dann schritt die Königsfamilie aus dem Haus, der Schwiegersohn Sahir Schahs - der ehemalige General Wali - vor dem König, sein zweitältester Sohn und weitere Familienangehörige und Beamte nach ihm. Organisiert wurde alles von Sahir Schahs Empfangschef und Büroleiter Hamid Sidiq (siehe das Interview mit ihm in "FLENSBURGER HEFTE" Nr. 77, S.132 ff.).
Nach einer kurzen Begrüßung standen einzelne Besucher als Vertreter ihres Dorfes auf und trugen einen vorbereiteten Text vor. Alle - gleich aus welcher Gegend, gleich aus welchem Stamm - bekundeten ihre Freude über die Rückkehr des ehemaligen Königs, schworen ihm ihre Treue und hofften, daß er auf irgendeine Weise nach der Loya Dschirga wieder zum Staatsoberhaupt werden würde. Sahir Schah bemüht sich seit seiner Ankunft, die nicht näher definierte Rolle eines "Vaters der Nation" in diesem seit Jahrzehnten von Gewalt heimgesuchten Land einzunehmen. Von Haus aus spricht er Paschtu, die Sprache der paschtunischen Mehrheitsbevölkerung. Aber wenn ein Paschtune bei der Audienz in Paschtu vortrug, antwortete er in Dan, Altpersisch, den anderen in Afghanistan gesprochenen Sprache, die von den Tadschiken gesprochen wird. So bemühte sich Sahir Schah um Ausgewogenheit, weil en ein Dorn im Auge venschiedener Vertreter der Pandschiris ist, die zur tadschikisch dominierten Nordallianz gehören, welche gegen die paschtunischen Taliban gekämpft hat. Von allem sind hier die drei starken Minister der Interimsregierung zu nennen, die alle aus dem Pandschirtal stammen: Innenminister Kanouni, Außenminister Abdullah und vor allem Venteidigungsminister Fahim, der ehemalige Stellvertreter Massouds. Bis auf Kanouni haben sie auch ihr Ministeramt nach der Loya Dschirga behalten.
Eindrücke aus Kabul
Braun. Hellbraun, schmutzig-braun, manchmal dunkelbraun. Das ist der erste Eindruck von Kabul, den man oberflächlich erhält. Von allem die Häuser, teils aus Lehmziegeln erbaut, sind braun. Viele Straßen sind braun, selbst die umliegenden Berge schimmern zu großen Teilen in Braun.
80 % der Häuser Kabuls sind zerstört, aber immer wieder entdeckt man auch unbeschädigte Häuser, vor allem an den Hängen. Die Hauptverkehrsadern Kabuls sind mit Autos, vor allem gelben Taxis, abenteuerlich bunten Bussen, Fahrrädern, Eselskarren und von Menschen geschobenen Karren sowie Fußgängern total verstopft. Andere Straßen werden kaum befahren, sie sind nicht geteert, ein Schlagloch folgt dem nächsten, oder tiefe Rinnen, durch die die Kloake fließt, durchfurchen die Straßen. Toiletten gibt es nicht in ärmeren Vierteln, die Kloake fließt unter den Türen auf die Straße. Es stinkt entsetzlich.
Ein alter Mann sitzt mitten auf der Straße und erledigt dort sein großes Geschäft. Links und rechts erblicke ich Kioske, wo die Waren verkauft werden: Autozubehör, Melonen, Bananen, Apfelsinen, Apfel, Hammelkeulen und Hühner, die frei in der Luft schwingen, Radieschen, Porree, Kohl, Gurken und Haushaltsgegenstände. Es gibt fast alles, größtenteils aus Pakistan herangeschafft.
Das Bad in der Menge ist nicht leicht. Ohne Bart und erkennbar aus dem Westen kommend, wird man von den Kindern angestarrt, als käme man vom Mars. Bewegen Sie sich einmal durch das Getümmel eines Basars, ständig von fünf bis zehn Kindern und Jugendlichen umringt, die nichts anderes tun, als einen fortwährend anzustarren!
Auf dem Basar
Wir mußten Geld wechseln, Dollar in Afghani. Das Bankensystem Afghanistans ist völlig zusammengebrochen. Sämtlicher Finanzverkehr wird ausschließlich mit Bargeld abgewickelt. So findet auch das Wechselgeschäft auf der Straße statt bzw. auf dem Basar. Ich kenne viele orientalische Basare, meist sind sie übendacht. Nicht so in Kabul. Er befindet sich auf einem großen freien Platz in der Stadtmitte um den Fluß Kabul herum. Als wir aus dem Wagen steigen, verschlägt es uns den Atem. Die Ursache ist eine Schubkarre voll mit undefinierbaren tierischen Innereien, die sich in der Sonne blähen und ungeheuerlich stinken. wer davon etwas kauft, bleibt uns verborgen, denn wir suchen schleunigst das Weite. Wir flüchten, aber immer von den Kindern begleitet. Manche bieten uns aus schwarzen verbeulten Blechdosen Wasser zum Trinken an, andere schwenken Blechgefäße, in denen sie für uns Weihrauch verbrennen wollen, aber die meisten starren uns einfach nur an.
Und dann stehen wir in der Geldwechslergasse. 30 bis 40 abenteuerliche Gestalten mit Bärten und Turbanen hocken in einer Reihe, vor sich riesige Stapel mit afghanischen, iranischen und pakistanischen Banknoten. Und hier mußte Geld getauscht werden, indem man die einzelnen Händler nach dem Kurs fragt. Wir erreichen einen Kurs von 38.000 Afghani für einen US-Dollar. Auf vielen Straßen wimmelt es von Kindern, einige sind zu stolz zum Betteln, viele sind aber darauf angewiesen. Hübsche Kinder, oft erkennbar hungernd, viele von der Leishmaniose auf der Wange gezeichnet, aber trotz traurigen Augen meist sehr fröhlich. Als wir zuerst den Fehler machen, einigen in der Öffentlichkeit Geld zu schenken, sind wir unseres Lebens fast nicht mehr sicher, so viele zerren plötzlich an uns. Fortan gaben wir unserem Fahrer Geld, der es gezielt armen Frauen und Kindern zusteckte. Es gab aber auch Situationen, in denen man nichts schenken konnte, weil wir kein Geld dabei hatten bzw. nur größere Scheine. Und dann brauchte man schon sehr viel Kraft, so eine Situation auszuhalten: Kinder mit traurigen Augen abzuweisen, einem Jungen nichts schenken zu können, der sein Gesicht an meinen Arm schmiegte, einer armen Frau nichts geben zu können, die sogar ihre Burka hob, um mir ihr Gesicht zu zeigen.
Im Frauenministerium
Unser Fahner drückte auf die Hupe, das Tor zum Frauenministerium wurde von zwei jungen Männern geöffnet, und wir fuhren hinein. Wie bei jeder Behörde, wurden wir kräftig gefilzt, besonders die Fotoapparate und Videokameras, weil man verständlicherweise vermeiden will, daß sich nochmals so ein Attentat wie auf Massoud mit einer Bombe in einer Kamera wiederholt.
Im Frauenministerium wehte ein Hauch den Moderne. Stolze Frauen gingen unverschleiert durch die Gänge, wähnend man auf den Straßen bestimrnt noch 95 % der Frauen mit der blauen oder blaugrauen Burka herumlaufen sieht. Zwar sitzen die Burkas jetzt lockerer, wehen lässig im Wird und werden nicht mehr vorne zusammengehalten, auch gehen viele Frauen allein auf der Straße, aber sie haben immer noch Angst vor den Männern, vor einer etwaigen Rückkehr der Taliban, vor einer ungewissen Zukunft. Kein Wunder in einer derartig patriarchalischen Gesellschaft und nach dem für Frauen wohl übelsten Schreckensregime aller Zeiten.
Die zu dieser Zeit noch amtierende Frauenministerin Sima Samar ist nicht da, aber ihre Stellvertreterin und Beraterin, die Ärztin Soraya Rahim, steht für ein Interview zur Verfügung. Als sie berichtet, daß auch sie - nach etwa zwei Jahrzehnten Auslandsaufenthalt in Deutschland, im Iran, in Pakistan und den UdSSR - noch Schwierigkeiten hat und sich jedes Mal wieder einen Ruck geben muß, ohne Schleier die Straße zu betreten, wird mir klar, wie weit die afghanische Gesellschaft noch von einer Normalitat entfernt ist, gemessen an europäischen Verhältnissen.
Leider wurde Dr. Sima Samar auf der Loya Dschirga heftig attackiert, weil sie sich gegen die wiedereingeführte Scharia ausgesprochen haben soIl, und sie ist nicht mehr als Ministerin eingesetzt worden.
Bei Karsai
Der Interimspräsident und auf der Loya Dschirga erneut gewählte Präsident Hamid Karsai residiert im Königspalast. Die Kontrollen sind hier besonders scharf. Mit einer Gruppe Exil-Afghaninnen aus den USA bekamen wir die Gelegenheit, uns einige Stunden auf dem Gelände und bei Karsai aufzuhalten. Man zeigte uns die teilweise noch enhaltenen und teils zerstörten Paläste, so z.B. den kleinen Sommerpalast, wo die Taliban das gesamte Gold von den verzierten Wänden abgekratzt haben und wo Taraki, der erste kommunistische Staatspräsident Afghanistans, auf Veranlassung seines Stellvertreters Amin erwüngt worden ist.
Wir betreten einen prunkvollen Saal mit Wasserbecken und wasserspeienden Löwen sowie Wandteppichen mit Pfauen - aber ihre Köpfe fehlen. Die Taliban haben sie herausgekratzt, weil es nach ihner Auffassung des Islam sogar nicht einmal gestattet war, bildliche Darstellungen von VögeIn zu präsentieren.
Im Empfangszimmer von Karsai werden grüner Tee und viergeteilte Glasschalen mit Nüssen, Rosinen, Mandeln und Süßigkeiten gereicht. Karsai nimmt sich über eine Stunde Zeit. Betont locker betritt er den Saal, begrüßt jeden mit Handschlag und beantwortet in fließendem Englisch alle Fragen. Er wird gefragt, wie es angehen könne, daß in Kabul noch ein 13jähriges Mädchen im Gefängnis sitzt und noch immer 9jährige Mädchen mit 50jährigen oder älteren Männern verheiratet werden. Um die l3jährige wollte er sich sofort kümmern, er wies aber auch darauf hin, daß die islamischen Traditionen und Einflüsse in Afghanistan noch sehr stark seien und man sie nicht von heute auf morgen ändern könne.
Wir rufen ihm noch einmal unser Kufa-Projekt ins Gedächtnis, das Grundstück für das Frauenprojekt und Waisenhaus, für das Karsai bei seinem Berlin-Besuch im Februar 2002 Rahman Nadjafi ein kostenloses Grundstück zugesichert hatte, und er verspricht uns, am morgigen Tag ein entsprechendes Schreiben für den Kabuler Bürgermeister aufzusetzen.
Er erzählt auch eine Anekdote, wie er kürzlich zusammen mit Amin Farhang, dem Minister für Wiederaufbau, eine Fahrt durch Kabul untennahm und bei dieser Gelegenheit auch bei einem Waisenhaus vorbeikam. Die Kinder erkannten beide, winkten sie heran und bestanden darauf, sie unbedingt zum Tee einladen zu wollen. Während der Teezeremonie eröffneten die Kinder dann: "Wir haben kein Fleisch zum Essen." Der Präsident machte es in den folgenden Tagen möglich, Geld zum Fleischkauf für die Waisenkinder zu organisieren und brachte es höchstpersönlich vorbei. "Und dieses Mal", so erzählte Karsai lächelnd, "haben sie mich nicht zum Tee eingeladen."
Als ich Karsai das "FLENSBURGER HEFT" Nr. 76, "Kampf der Kulturen?", schenke und er darin blättert, stößt er auf das Bild von Rahman Nadjafi auf S.11 und meint lachend: "He looks like Mick Jagger."
Beim Wiederaufbauminister Farhang
Am nächsten Tag haben wir einen Interviewtermin beim Wiederaufbauminister Farhang. Tief beeindruckt hatte mich die Geschichte Farhangs vom alten Schreiber (abgedruckt in den "FLENSBURGER HEFTEN" Nr. 77, S. 148 ff.), in der er von seinem Gefängnisaufenthalt und den Folterungen während der kommunistischen Zeit unter Taraki und Amin berichtet. Während des Interviews sprechen wir über diese Zeit, und er erzählt, daß er kürzlich den Ort des Schreckens, das Gefängnis Pol-e-Tscharkhi, noch einmal aufgesucht habe.
Ein ganzes Land ist zerstört, in einigen Teilen kämpfen noch die Amerikaner gegen die Taliban, immer mal wieder vermutet man noch Osama bin Laden im Land, obwohl er sicherlich langst außer Landes ist - falls er überhaupt noch am Leben ist. In den meisten Regionen herrschen noch die lokalen Warlords und machen der Regierung das Leben schwer. Der Boden ist voller Minen, die Infrastruktur und die Obstplantagen sind zerstört. Die schlimmste Dürre seit 30 Jahren hat Tausende von Bauern in die Städte oder in Lager der internationalen Hilfsorganisationen vertrieben, denn 2001 fiel in weiten Teilen des Landes, bereits im dritten Jahr in Folge, nur ein Drittel der benötigten Regenmenge, so daß viele Weizenfelder und Wiesenflächen verdorrten. Und die diesjährige Ernte wird zumindest im Norden Afghanistans von Heuschreckenschwärmen aufgefressen. Alles in diesem Land liegt buchstäblich am Boden und muß wieder aufgebaut werden, aus eigener Kraft und mit internationaler Hilfe.
Und Minister Farhang ist es, der alle diese Projekte im Rahmen seiner Möglichkeiten gleichzeitig angehen muß. Was für eine gewaltige Aufgabe!
Es war einmal in Kabul
Eine Besichtigung des ehemaligen Prachtviertels Kabuls konnte nicht ausbleiben. Ganze Straßenzüge und weite Viertel auf beiden Seiten sind völlig zerstört, zerbombt im Jahre 1992 von Gulbuddin Hekmatyar und anderen Mudschaheddin. Es ist erschütternd. Nicht ein einziges Haus ist unversehrt geblieben. Wie verfaulte Zahnstumpen, zerfurcht von Kratern, ragen die Häuserruinen in den Himmel - stumme Zeugen dessen, was menschlicher Haß, der Wahnsinn der Nationalismen und der Cliquenherrschaften sowie der Einfluß internationaler Großmächte anrichten können.
Es kostet viel Phantasie, sich vorzustellen, wie es einst hier in Kabul gewesen sein muß, als die Häuser noch standen, als man noch einkaufen und ins Kino gehen konnte, als die Frauen noch unbeschwert und unverschleiert über die Straßen schlenderten und als noch Musik ertönte. Es war einmal in Kabul!
Ins Stadion
"Im Reich der Finsternis" heißt der Film, der mich bisher am meisten beeindruckt hat, gedreht von der in England lebenden Afghanin Saira Shah, die 2001 zum ersten Mal Afghanistan besuchte und diesen Film heimlich drehte. Er zeigt alle Schrecken des Taliban-Regimes, u.a. die bestialischen Freitagszeremonien im Stadion. Fast jeden Freitag kamen Teile der Bevölkerung ins Stadion, teils freiwillig als Familienausflug, teils unfreiwillig. Und dann wurden die Opfer hineingefahren, Frauen und Männer. Von ihren Mitbürgern, vielleicht sogar Nachbarn, wurden sie erschossen, erhängt, oder ihnen wurde die Kehle durchgeschnitten bzw. Hände und Füße abgehackt.
Und in dieses Stadion fuhren wir nun an einem schönen Nachmittag hinein. Es war ein beklemmendes Gefühl, an so einem Schauplatz zu stehen, wo die Menschen noch vor Monaten reihenweise ermordet oder verstümmelt wurden. Aber zugleich erfüllte mich Freude, weil diese Phase des Grauens vorbei ist und das Stadion jetzt wieder für Sport- und Musikveranstaltungen genutzt werden kann.
Auf ins Pandschirtal
Es ist Freitag, Feiertag in islamischen Ländern. Wir fahren nach Norden. Drei Blumensträuße für das Grab von Massoud liegen im Wagen, ferner 1.000 Kugelschreiber. Einige davon verschenken wir unterwegs an die Kinder.
Nördlich von Kabul liegen große Flächen mit ehemaligen Obstplantagen und Kornflächen. Die Taliban haben alles zerstört - verwüstet, abgeholzt, vermint. Auch die Nordallianz hat Minen gelegt, denn wir bewegen uns durch die Gebiete, in denen die Kämpfe zwischen der Nordallianz und den Russen und später zwischen den Taliban und der Nordallianz wüteten.
Unsere Fahrt geht auf einer geteerten Straße nach Norden, je eine Spur in beide Richtungen, links und rechts, im Abstand von wenigen Zentimetern zur Fahrbahn, liegen Steine mit roten Punkten. Sie bedeuten, daß das gesamte Land dahinter vermint ist. Eine falsche Reaktion des Fahrers, und es könnte die letzte Fahrt gewesen sein.
Mitten auf der Straße werden wir von einem Mann mit Funkgerät energisch gestoppt. Das Minenräumkommando sprengt rechts neben der Fahrbahn. Und dann kamen sie, die Männer mit ihrem gefährlichen Job. Mit ihren Schutzanzügen, Helmen und Visieren kommen sie im Gänsemarsch auf uns zu und machen einen unwirklichen, fast roboterhaften Eindruck. Dann fliegt eine Mine in die Luft - ein dumpfer, hohler Knall, eine Staubwolke. Das war's. Eine weniger von den Millionen, die noch in der Erde heimtückisch auf ihre Opfer lauern.
In einiger Entfernung von der Straße erblicke ich ein größeres Haus, auf dem Dach eine Art Galgen. Daran hängt etwas längliches Schwarzes. Als ich unseren Fahrer frage, was das sei, antwortet er, daß es die Leiche eines arabischen Taliban sei, den man dort als Abschreckung für alle ausländischen Eindringlinge aufgehängt hat und hängen läßt.
Wir biegen nach Nordosten ab, Richtung Pakistan, hinein ins Pandschirtal. Das Pandschirtal gehört zu den westlichen Ausläufern des Hindukusch, unten fließt der Fluß Pandschir, an seinen Ufern im Tal und auf terrassierten Flächen an den Hängen zu beiden Seiten wird Weizen und Gemüse angebaut. Fernab leuchten schneebedeckte Höhen in der Sonne.
Der einzige Weg durch das Tal windet sich oft hoch an den Hängen entlang, ist meist nicht breiter als vier Meter - links die kahlen, nach oben gestreckten Felsen, rechts der steile Abfall ins Tal. Dieses Tal war jahrzehntelang umkämpft. Massoud hat es gegen die Russen verteidigt und in den 8Oer Jahren allein neunmal die Offensiven der Russen zurückgeschlagen. Auch die Taliban konnten es später nicht erobern. Die Folgen davon sieht man fast an jeder Wegbiegung: Das Tal ist übersät mit Panzerwracks und Raketenteilen.
Unser Fahrer erzählt uns, wie er vor geraumer Zeit zu Fuß unseren Weg durch das Tal nahm, als er plötzlich von Taliban-Flugzeugen überrascht wurde, die Bomben warfen. Er kam nur mit dem Leben davon, weil er sich ganz eng an den Felsen drückte.
Wir fahren weiter, dem reißenden Strom entgegen, vorbei an bizarren Felsen, Klüften, manchmal auch an weiten Ebenen, wo noch heute die intakten Panzer und Raketenwerfer der Nordallianz in Massen parken.
"Dort vor uns", der Fahrer deutet auf den Abgrund an einer Wegbiegung, "ist vor wenigen Tagen ein Lkw mit sechs Menschen in den Abgrund gestürzt." Auch wir kommen nicht weiter, denn eine Herde mit Hunderten von braunen Ziegen versperrt uns den Weg. Wir oder die Ziegen! Die nomadischen Hirten haben alle Mühe, die Ziegen so weit zur Seite zu prügeln, daß wir gerade noch mit unserem Wagen vorbeifahren können, ohne auch in den Abgrund zu stürzen.
Bazarak
Ein Nebenfluß überflutet unseren Weg, badende Kinder lachen und schütten Hande voll Wasser gegen die Windschutzscheibe. Weiter geht die Fahrt. Vor uns fährt der Bruder von Massoud. Von Kilometer zu Kilometer wird die Landschaft schöner, bis wir nach stundenlanger Fahrt in Bazarak, einem kleinen Dorf inmitten des Pandschirtals, ankommen und bereits das weithin sichtbare, auf einer Anhöhe gelegene Grab Massouds erblicken.
Nachdem wir unsere Blumensträuße am Grab niedergelegt haben, werden wir in dem nahegelegenen Dorf vom Schwiegervater Massouds, Hadschi Tadschuddin, in seinen recht ansehnlichen Palast eingeladen, dessen Ausmaße man von der Straße aus nicht venmutet hätte. Der Direktor der öntlichen Schule, Abdul Rahman, wird auch eingeladen.
Massouds Schwiegervater erzählt uns von den Kriegsberatungen Massouds, die oft in diesen Räumen abgehalten worden waren, wie die Taliban immer wieder versucht haben, sein Haus zu bombardieren und wie gerade die Wahlen für die Abgesandten der Loya Dschirga in den vier Gebieten des Pandschirtals durchgeführt worden sind.
Wir sind die ersten Ausländer, die nach der Taliban-Zeit hierher gekommen sind, um zu helfen. Aber noch ist unsere Hilfe bescheiden: 900 Kugelschreiber für die Schule, drei Tropfen auf den heißen Stein.
Und dann besuchen wir die Schule. Es ist erschütternd, traurig, rührend. Sie wird von 900 Schülerinnen und Schülern besucht, davon knapp 300 Mädchen. Es ist eine der wenigen Schulen Afghanistans, in der während der gesamten Taliban-Zeit Mädchen zur Schule gehen konnten. Lediglich für die Hälfte der Klassen gibt es Schulräume, deshalb muß in zwei Schichten unterrichtet werden. Bis zur sechsten Klasse gibt es Koedukation, ab Klasse sieben werden Jungen und Mädchen getrennt unterrichtet. Je 15 Lehrerinnen und Lehrer unterrichten die Schüler u.a. in Biologie, Chemie, Mathematik, Kunst, in Dari ab der ersten., in Paschtu ab der vierten und in Arabisch und Englisch ab der siebten Klasse.
An dieser ,,Massoud-Märtyrer-Schule", wie sie heißt, hatte Massoud zeitlebens großes Interesse, und alle Lehrer haben während der Kämpfe mit den Russen und den Taliban, meist unter großen persönlichen Opfern, fast ohne Gehalt, unterrichtet. Auch heute verdienen sie kaum etwas.
Die Schule ist nun halb fertig, es sollte eine Krankenstation gebaut werden - aber es fehlt fast an allem. Die Klassenräume für die jeweils 35 bis 40 Kinder haben etwa nur ein Drittel der Größe, die bei uns üblich ist, manche haben keine Stühle, so daß die Kinder während des Unterrichts auf dem Boden hocken müssen. Hier und da gibt es in einem Klassenraum eine Tafel und ein paar Kreidestücke, aber überhaupt kein Lehrmaterial wie Bücher und Gerätschaften.
Wir steigen auf das flache Dach der Schule, lassen uns von der hinreißenden Landschaft an diesem späten Nachmittag faszinieren, aber verschließen nicht die Augen vor der Realität. Ich frage Hadschi Tadschuddin, wohin die Kinder gehen, wenn sie auf die Toilette müssen. "In die Landschaft oder dorthin", und er zeigt nach unten, wo ich zwei undefinierbare Quader aus rohem Stein erblicke.
Patenschaften
In diesem Moment schießt mir der Gedanke durch den Kopf, ob es nicht für uns Menschen im reichen Westen Pflicht ist, irgendwo auf der Welt den Menschen der armen Länder zu helfen, und wie es wäre, wenn man Patenschaften zwischen deutschen und afghanischen Schulen organisienen würde.
Ich habe diese Idee schon in Flensbung und in anderen Städten in Vortäagen dargestellt, und es sieht momentan so aus, als würde sich nach dem Sommer eine solche Idee in die Tat umsetzen lassen.
Durch die Nacht
Unsere Zeit wird knapp. Um 22 Uhr ist Ausgangssperre in Kabul, aber wir sind Stunden entfernt, tief im Pandschirtal. Die Sonne neigt sich zum Horizont und verschwindet hinter den Bergen. Unser Fahrer muß schneller fahren. Aber dann kommen wir nicht weiter. Einige Afghanen haben eine Eisenplatte entfernt, die als Brücke über einen kleinen Strom diente, um einige darunter befindliche Felsbrocken herauszubrechen. Und sie lassen sich Zeit. Die Uhr läuft.
Irgendwann ist aber auch diese Arbeit geschafft. Und als wir im nächsten Dorf wieder über einen Fluß fahren, stehen dort einige Erwachsene und viele Kinder auf der Brücke und schauen hinab auf den Strom: "Der Fluß hat uns Enten gebracht", ruft ein Mädchen einem anderen zu. Die Erwachsenen hatten zwei Enten gefangen, die auf dem Wasser schwammen.
Dann ist es stockdunkel. Weiter geht die Fahrt über Stock und Stein, und dann kommt sie, die obligatorische Reifenpanne, und wir wundern uns, warum sie sich nicht schon viel früher ereignet hat. Aber unser Fahrer meistert auch diesen kleinen Störfall zwischen den dunklen Bergen, während in der Ferne ein einsamer Wolf heult. Randvoll mit Eindrücken erreichen wir Kabul einige Minuten vor der Ausgangssperre.
Ein Frauenprojekt und Waisenhaus
Leider mußte ich nach einer Woche wieder abreisen, aber Ole Ohlenbostel und Rahman Nadjafi blieben vor Ort, um das Frauenprojekt und Waisenhaus zu konkretisieren. Und es gab wie üblich Probleme. Das Genehmigungsschreiben Karsais an den Kabuler Bürgermeister Aimog war zweideutig und fiel anders aus, als mündlich versprochen. Es wurde kein kostenloses Grundstück zugesichert, sondern nur im Rahmen der islamischen und staatlichen Gesetzgebung, was wahrscheinlich einen Kauf des Grundstücks zur Folge gehabt hätte. Auch ein Gespräch mit dem Kabuler Bürgermeister kam trotz mehrmaliger Anläufe nicht zustande, geschweige denn die Genehmigung für ein kostenloses Gnundstück. Das Projekt drohte, ins Wasser zu fallen. Denn für die Miete oder gar einen Kauf standen Kufa e.V. keine finanziellen Mittel mehr zur Verfügung.
Also mußten wieder die Beziehungen sprechen. Der Bruder von Massoud, Ahmed Wali Massoud, wurde aufgesucht. Er war sofort von dem Projekt angetan und wollte sich bei dem Bürgermeister von Kabul dafür einsetzen. ein Gespräch, und schon stand das Grundstück kostenlos zur Verfügung: ein etwa 6.000 m2 großes Gelände mit halbwegs gut erhaltenen Gebäuden. Auch die nötigen Menschen, die die Renovierung der Gebäude und die Auswahl der 20 Witwen und 80 Waisenkinder übernehmen, wurden engagiert. Die Frauen werden Nähmaschinen bekommen, sich ihr Geld mit Schneiderei-Aufträgen verdienen und mit je vier Waisenkindern eine Kleinfamilie bilden.
Die Deh-Kepak-Schule in Kabul
Rahman Nadjafi und Ole Ohlenbostel haben sich zusammen mit Frau Schopan, einer in Deutschland lebenden Afghanin, die sich sehr aktiv für verschiedene humanitäre Projekte in Afghanistan einsetzt, auch um die Kabuler Deh-Kepak-Schule, die aus einer Mädchen- und einer Jungenschule besteht, gekümmert. Sie wurde wie die Massoud-Schule in Bazarak in das Programm von Kufa e.V. aufgenornmen.
In kürzester Zeit wurden durch Kufa die verschiedensten Geschenke für die Schule onganisiert: für jeden Lehrer ein Kanister Speiseöl, für die Schüler Tausende Hefte und Kugelschreiber, acht große Wasserbehälter für Trinkwasser, 50 Schülerbänke, einige Tische, zwei Wasserpumpen sowie die Kosten für die Wiederherstellung eines Brunnens. Diese Geschenke wurden auf einem extra für Kufa organisierten Lehrerfest in Anwesenheit des Kultusministers feierlich übergeben. Die Schülerinnen und Schüler trugen auf diesem Lehrerfest Gedichte vor und gaben Kostproben aus ihrem Unterricht.
Die Zustände an dieser Schule sind ähnlich wie die in Bazarak bzw. wie in wohl fast allen Schulen Afghanistans. Die 3.000 Schülerinnen und Schüler sitzen meist auf dem Fußboden, haben kein Lehrmaterial und keine Toiletten. Dafür dient den Jungen und Mädchen je ein Steinhaus, in dem es stockdunkel ist und aus dem es entsetzlich stinkt.
"Am meisten hat mich beeindruckt", erzählte mir Ole Ohlenbostel nach seiner Rückkehr, "als mich ein Lehrer heranwinkte und mit mir zu einer Garage ging." Als der Lehrer das Tor öffnete, saßen dort etwa 30 junge Schülerinnen auf dem Fußboden, fast im Dunkeln, lediglich einige Steine waren in einer oberen Ecke aus der Garage als Luft- und Lichtloch herausgebrochen. "Die Freude, die diese Mädchen zeigten, als sie erfuhren, daß ich aus Deutschland komme, war überwältigend. Minutenlang haben sie später auf dem Schulhof für uns geklatscht."
Wer helfen möchte
Afghanistan hat uns allen gezeigt, daß die Welt seit langem rnächtig aus den Fugen geraten ist und daß das Verhältnis zwischen den reichen und armen Menschen schon lange nicht mehr stimmt. Die FLENSBURGER HEFTE und vor allem Kufa e.V. werden sich deshalb weiter im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die drei beschriebenen Projekte einsetzen: das Waisenhaus in Kabul, die Massoud-Schule in Bazarak sowie die Deh-Kepak Schule in Kabul. Wenn Sie helfen möchten, wenden Sie sich bitte an:
Rahman Nadjafi, Kufa e.V. (Komitee zur Unterstützung der Flüchtlinge in Afghanistan und zum Wiederaufbau des zerstörten Landes), Haynstraße 3, D-20249 Hamburg, Tel.: 040 / 48 44 61.