Ein Bericht aus Kabul von Afschin Samandar

Im Auftrag von KUFA e.V. verbringe ich, Afschin Samandar, ein halbes Jahr in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans.

Derzeit lehre ich tagsüber drei ehemaligen Straßenkindern und zwei weiteren Kindern aus dem Dorf Waisalaabaad, in dem ich im Rahmen meines sechs monatigen Aufenthalts wohnhaft bin, jeweils zwei Stunden Englisch und zwei Stunden Deutsch. Danach haben wir meistens eine Zeicheneinheit von etwa einer Stunde, bevor die Kinder in der eigens im Haus anzutreffenden Werkstatt die traditionellen Schnitz- und Kerbarbeiten aus dem Gebiet Nuristans von zwei Tischlermeistern lernen.

Diejenigen unter den Kindern, die tagsüber zur Schule gehen, bekommen im Haus eine Möglichkeit, ihren Unterrichtsstoff zu wiederholen, ungeklärte Fragen beantwortet zu bekommen und ihre Hausaufgaben zu besprechen. Abends wird der tagsüber neu gelernte Stoff wiederholt, bevor die Kinder nach Hause gehen.

Samstag, 13.06.2015

Heute haben mein Vater und ich uns mit einigen Straßenkindern, die wir an der „Pulle Surkh“ (Rote Brücke) antrafen, in einem Restaurant zusammen gesetzt, um diese zum Essen einzuladen.

Alle samt aßen einen Teller mit frisch gegrilltem Kebab-Fleisch, von dem die meisten etwas übrig ließen, um den Rest ihren Familien zukommen zu lassen. Daher bestellten wir ihnen ein weiteres Gericht, das sie mit nach Hause nehmen konnten, ohne ungesättigt auf ihre eigene Mahlzeit zu verzichten.

Dienstag, 16.06.2015

Gegen etwa 10 Uhr machten mein Vater und ich uns auf den Weg zum „Habibi High Lycée“, das 1903 von König Habibullah als erste moderne Schule Afghanistans gegründet wurde, wo erstmals auch Naturwissenschaften unterrichtet wurden. Dies war auch die damalige Lehreinrichtung meines Vaters. Hier verteilten wir ein bereits vor 100 Jahren von Dr. Abdulghani, Mitbegründer des Habibi High Lycée und Berater von König Habibullah, verfasstes Buch.

Seit zwei Wochen sind die Lehrer des Habibi High Lycées und die Mehrheit der Lehrer der restlichen Schulen in Kabul im Streik, weil sie vom Staat mehr Gehalt und gesicherte Unterkünfte fordern, die zuvor vom Präsidenten versprochen wurden. Viele der Lehrer hausen in heruntergekommenen Hütten und sind zum Teil sogar obdachlos. Ihr monatlicher Durchschnittslohn liegt zwischen 4200 – 9000 Afghanis (ca. 60-150€).

Wir verweilten nicht lange an der Schule und machten uns direkt auf den Weg zur „Gawarshad Beghum Privatuniversität“, wo wir um kurz vor zwölf eintrafen und bis 14 Uhr an der nationalen Konferenz für Frieden und Lösung der vorherrschenden Konflikte in Afghanistan teilnahmen.

Daraufhin fuhren wir zum Park Zarneghar, wo wir die Angehörigen der vor vier Monate und 25 Tagen von den Taliban als Geiseln genommenen 31 Reisenden besuchten, die, während sie unterwegs von Herat nach Kabul waren, in der Nähe der Provinz von Zabul in Gefangenschaft genommen wurden. Sie haben im Park ein Zelt aufgeschlagen, um dort im Zentrum der Stadt Tag für Tag bewusst ein Zeichen gegen die Taliban zu setzen.

Am achten Tag der Geiselnahme ist ein Mann durch die Folter der Taliban verstorben. 19 der Geiseln wurden nach 84 Tagen im Austausch gegen 26 Mitglieder der internationalen Taliban-Vereinigung, die im Rahmen der Terrorbekämpfung seitens der afghanischen Regierung in Djaghori (einer dörflichen Provinz von Ghazsni) vom Militär in Gefangenschaft genommen wurden, freigelassen. Die Freigelassenen waren etwa 20 Tage in einem Kabuler Krankenhaus stationiert.

Am Samstag, den 13.06.2015 wurden fünf weitere Personen als Geiseln genommen und drei Tage später, also heute, wurden weitere fünf Personen als Geisel genommen.

Dass die Verhandlungen zwischen der internationalen Taliban-Vereinigung und der afghanischen Regierung noch laufen und der Zeitpunkt der Freilassung der restlichen Geiseln noch völlig ungewiss ist, steht jedem der Familienangehörigen bis ins Unermessliche ins Gesicht geschrieben.

Montag, 22.06.2015

Um genau 10.23 Uhr wurde ich durch eine immense Erschütterung, mit nachfolgendem unüberhörbar-grässlichem Lärm unsanft aus dem Schlaf gerissen, die durch die Detonation eines Selbstmordattentäters seitens der Taliban, der versuchte, ein mit Sprengstoff beladenes Auto durch das Westtor des afghanischen Parlaments zu befördern, zu Stande kam; während der zweite Vizeminister von Aschraf Ghani, namens Danisch, dem Parlament ironischer weise gerade Stanekzai Masum, den Kandidaten für das Amt des Verteidigungsministers, vorstellen wollte.

Der Sprengsatz wurde, noch bevor das Auto den Eingang des Parlaments erreichte, gezündet, und diente scheinbar als Ablenkungsmanöver für weitere sechs Taliban, die durch ein noch nicht fertig gestelltes Gebäude ins Parlament vordringen wollten und davor das Feuer gegen die sich vor dem Parlament befindenden Polizisten eröffneten.

Zwischen 10.23 Uhr und 10.43 Uhr explodierten wohl zwei weitere Bomben, deren Detonation ich jedoch zeitlich nicht einordnen kann. Die letzte Bombe detonierte um Punkt 10.43 Uhr. Das Gefecht dauerte bis etwa halb 12; was am Ende, der zuvor zu erklingenden grauenvollen Geräuschkulisse, bestehend aus beidseitigem Schusswechsel und einigen untermalenden Raketenwerfern, festzumachen war. Nach offiziellen Angaben wurden 35 Zivilisten verletzt und außer den sieben Taliban-Mitgliedern kamen wohl keine Polizisten, aber zwei Zivilisten, darunter ein Kind, ums Leben.

Das Attentat fungierte mit höchster Wahrscheinlichkeit als Racheakt mit dem Zwecke der Panikverbreitung im Parlament, da die afghanische Miliz am Tag zuvor die Taliban-Gruppen, die sich dem Islamischen Staat im Norden Afghanistans angeschlossen hatten, in Badakshan erfolgreich vertreiben konnten.

Absurder Weise trafen kurz nach dem Attentat einige der im Haus anzutreffenden Straßenkinder und Studenten nacheinander ein, ohne dass sich auch nur ein Schimmer von Besorgnis, geschweige denn Angst in ihren Gesichtern abgezeichnet hatte. Für sie ist es grotesker Weise bereits zur Normalität geworden, dass alle paar Monate mal ein Anschlag verübt wird. Murtaza, einer der Tischlermeister, berichtete mir noch stolz, wie er schon sieben Explosionen mitbekam und wie eine Bombe sogar etwa 40 Meter entfernt von ihm in der Universität detonierte.

Ajmal, eines der ehemaligen Straßenkinder, vermerkte außerdem, dass ihm über Freunde zu Ohren gekommen sei, dass unter den verletzten Zivilisten viele Straßenkinder waren, die während des Attentats um das Parlament herum Autos und Schuhe säuberten.

Montag, 29.06.2015

Heute Morgen sind Murtaza, Ajmal, mein Vater und ich im Rahmen einer Hilfsaktion seitens KUFA e.V. in die Stadt gefahren, um einen riesigen Bestand an Lebensmitteln, in Form von 115 Kilo grünem Tee und jeweils 805 Kilo Bohnen und Zucker für die am kommenden Freitag im Haus eintreffenden 115 Straßenkinder einzukaufen, um wenigstens ansatzweise den monatlich notwendigen Bestand für die Versorgung derer Familien zu stellen.

Hochgerechnet ist es lediglich eine Unterstützung von einem Kilo Tee und jeweils sieben Kilo Bohnen und Zucker, die die Straßenkinder davon abhalten soll, sich den Großteil des Tages draußen aufzuhalten, und stattdessen den Vormittag in der Schule zu verbringen. Ansonsten müssten sie auf der Straße arbeiten, um Geld zu verdienen, das gerade mal für die notwendige Menge an Lebensmitteln reicht, um ihren Familien das Überleben zu sichern.

Dienstag, 30.06.2015

Heute Vormittag sind Murtaza, Ajmal, Nemat Ziya, ein afghanischer Beauftragter von KUFA e.V., und ich zusammen in die Stadt gefahren, um weitere 5750 Kilo Mehl und 575 Liter Öl für die Straßenkinder und ihre Familien einzukaufen. Insgesamt betrugen die Kosten für die an den zwei Tagen eingekauften Lebensmittel exakt 5200 US-Dollar.

Freitag, 03.07.15

Von 5.30 Uhr morgens bis 14.30 Uhr haben wir die Lebensmittel an die 115 Straßenkinder und ihre Familien verteilt. Die Verteilung ging mithilfe von zwei Listen von statten, sodass die Kinder in zwei zuvor eingeteilten Zeitspannen eintrafen.

Jedes Straßenkind und die zugehörige Familie bekamen ein Hilfspaket in Form von insgesamt einem Kilo Tee, jeweils sieben Kilo Bohnen und Zucker, 50 Kilo Mehl und 5 Litern Öl, das sie mit weiteren 100 Afghanis pro Familie, die von KUFA e.V. gestellt wurden, mit anderen Familien zusammen, die in den selben oder umliegenden Gebieten wohnhaft sind, in Taxen verladen konnten, um so den mühseligen Aufwand des Transportes der Waren und erhebliche Fahrtkosten zu sparen.

Solange nur hilfsbedürftige Kinder mitsamt Familie, die namentlich vermerkt waren, eintrafen, gab es mit der Verteilung der Lebensmittelressourcen keine Probleme. Problematisch wurde es, als plötzlich Unmengen an Mitbürgern aus der umliegenden Nachbarschaft eintrafen, die zuvor beobachtetet hatten, wie Leute das Haus mitsamt Lebensmitteln verließen, um auch eine Hilfeleistung entgegen zunehmen. Der Fakt, das einige Kinder und Frauen unter ihnen mehrmals unter falschem Namen aufkreuzten, um erneut Lebensmittel abzuholen, verdeutlicht die Misere und den elendigen Notstand, in dem sie sich befinden.

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